Überlegungen zum „Danach“
Die Zeit der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen lässt verschiedene Aspekte mehr in den Vordergrund rücken als vorher. Aus den persönlichen, aber „massenhaft“ gemeinsam geteilten Erfahrungen lässt sich Politik schmieden. Man könnte darüber eine Bibliothek schreiben. Hier nur ein paar gedankliche Ausflüge.
1. „Ich bin ein Mensch! Lasst mich hier raus!“
Ein sehnsüchtiger Blick aus dem Fenster… Ich habe drei Wochen in freiwilliger Quarantäne gesessen… Wenn wir wieder dürfen, werden wir mit Freunden und mit großer Begeisterung in die Natur streben und picknicken, „bis der Arzt kommt“. – Wer nach einer Zwangspause durch die Welt spaziert, wird die Natur, aber auch ihre Vermüllung, ihre menschengemachten Schäden, deutlicher wahrnehmen als vorher. Natur- und Umweltschutz, bürgerschaftliches Engagement in diesem Bereich werden „danach“ stärker werden. Das können wir nutzen, wenn wir den sozialen (!) Aspekt noch enger damit zu verbinden lernen!
2. „Wenn alles vorbei ist, feiern wir!“
Der Verzicht auf reale Treffen mit Freunden, Bekannten (z.T. auch einfach den Kunden im Laden!) lastet auf uns wie Blei. Ich überlege, ob uns „danach“ zumindest vorübergehend neue „Roaring Twenties“ erwarten. Mit einem Auseinanderklaffen von luxuriösen Feiern auf der einen und dem Kleinkunstabend im Hinterhof auf der anderen Seite. Wiedersehensfreude, gemeinsam Pläne schmieden…
Vorher stellen wir aber fest, wie wichtig „Digitalisierung für alle“ ist. Ohne die modernen Möglichkeiten der Kommunikation wären wir aufgeschmissen. – Es wird sicher eine Phase der Übersättigung geben. (Ich habe das Manuskript für diesen Text voll Wonne mit Kuli auf echtes Papier geschmiert!) Aber das Thema Digitalisierung und Datenbeschleunigung, eine entsprechende Gesetzgebung (u.a. auch Datenschutz und Persönlichkeitsrechte betreffend) werden für viele nicht mehr Neuland sein, sondern in den Fokus rücken. Und: Vergessen wir die Schulen nicht! Es muss ein öffentlich finanziertes Programm geben, dass alle Schulen wirklich ausreichend mit der Technik ausstattet, die sie ins 21. Jahrhundert versetzt… (Wenn sich die Zahlen nicht sehr verändert haben, seit ich mein Ratsmandat aufgeben musste, dann gibt es da trotz aller Anstrengungen noch viel Luft nach oben!)
3. „Deutschland muss Hamstern lernen!“
Die großen Krisen finden ihren Ausdruck offenbar, so zumindest im übersättigten Teil Deutschlands, in Kompensationshandlungen wie dem Hamstern. Aber Hamstern will gelernt sein: Klopapier? Nicht unter 8 Packungen! Nudeln? Zentnerweise! Aber es geht noch besser: Die Regale mit Frischmilch waren tagelang leer… Frischmilch! Wer kann so viel Frischmilch gebrauchen? Und so plötzlich?!
An diesem Unsinn wird deutlich: Wir brauchen einen gut publizierten Katastrophen-Plan. Ministerien, Kommunen, Ämter müssen bei Bedarf in die Schublade greifen können, um den Menschen bei Bedarf klare Empfehlungen aussprechen zu können. Darin enthalten, am besten bebildert, eine Anleitung zum Hamstern. Letztere muss eigentlich jedem Haushalt per wieder verstaatlichter Bundespost zugeschickt werden. Am besten nicht vor Ostern oder Weihnachten… – Schwieriger: Der Katastrophen-Plan muss einen zeitlich zu befristenden Maßnahmenkatalog enthalten, der in ruhigen Zeiten intensiv debattiert und wohlausgewogen zwischen Reaktion auf die Krisenursache und Erhaltung der Verfassung, v.a. der Persönlichkeitsrechte und der individuellen Freiheit sein muss. Am besten wird der Maßnahmenkatalog in Stufen aufgeteilt, dann wissen die Menschen, was „als nächstes“ kommt.
4. „Zwischen Trump, RKI und Leopoldina“
In den USA wird deutlich, was passiert, wenn wissenschaftliches Denken in den Wind geschrieben wird. In Deutschland sieht man, was passiert, wenn eine Gesellschaft sich nach und nach zu einer Ansammlung von Pseudo-Virologen entwickelt und die Politik zunächst wie das Kaninchen vor der Schlange – und dann plötzlich zwischen den Stühlen des rein wissenschaftlich arbeitenden RKI auf der einen und der politisch argumentierenden Leopoldina-Wissenschaftler auf der anderen Seite sitzt.
Was daraus resultiert, ist jedenfalls ein tieferer Einblick in wissenschaftliches Arbeiten. Ich gehe davon aus, dass wissenschaftliche Berufe als attraktiver wahrgenommen werden und sich deshalb der run auf die Universitäten noch verstärken wird. Grundsätzlich wird Wissenschaft höher bewertet als vorher. Das ist gut so! – Dem muss man mit einer verbesserten Finanzierung begegnen, die auch die Schulen umfassen muss.
Und, ganz wichtig: Wenn die Wissenschaft zunehmenden Einfluss auf die Politik erhält, dann ist ein Maximum an Transparenz notwendig!
5. „Ohne Dir und ohne mir – gibt’s kein Wir!“
Welche Berufe sind eigentlich wichtig? Wirklich wichtig? Bisher hat die Gesellschaft stark situative Antworten gegeben: Wenn nach dem Prosecco das Trinkgeld gegeben wird, ist’s der Kellner. Wenn einen der Bus so gerade pünktlich zum Termin gefahren hat, ist’s gerade die Busfahrerin. Und später die Ärztin und ihre Arzthelferin. Und dann der Lehrer, der Präsident, und dann die Fremde, der den kürzesten Weg zur öffentlichen Toilette kennt. Pflegerinnen und Pfleger auch. Der Mensch an der Kasse. Gerade jetzt. – Hm. Merkste selber, ne…
Dieser Effekt wird aber durch Corona enorm verstärkt! Deshalb wird es auf uns alle, besonders aber auf Politik, DGB-Gewerkschaften und Betriebs- und Personalräte ankommen, diese Stimmung in eine gerechtere Lohnpolitik umzusetzen! Das Eisen muss geschmiedet werden, solange es noch heiß ist! Und: Wo die öffentliche Hand Arbeitgeberin ist, muss sie Vorbild sein!
6. „Kultur funktioniert, wenn der Rubel rollt“
Aus materiellem Mangel heraus sind viele herrliche Kunstwerke entstanden, ja. Gerade jetzt wird aber deutlich dass vieles im kulturellen Bereich kaputtgeht, da der Rubel nicht rollt. Der Wert von Konzerten Theateraufführungen, Ausstellungen, kleinen Auftritten oder Aktionskunst (und ich meine zunächst einmal gar nicht den materiellen, sondern den emotionalen Wert), wird jetzt, da man auf all das verzichten muss, uns allen deutlicher denn je! – Bereits jetzt finden sich viele private Sponsoren und Mäzene unter den Wohlhabenden. Wir werden dies ausweiten müssen, und ich sehe dazu auch viel Bereitschaft. Wie wäre es mit einem großangelegten, aus privaten Mitteln gespeisten „Kommunalen Fonds für notleidende Künstler“ oder einer kommunalen Kulturstiftung, die sich um die größeren Einrichtungen kümmern kann?
Ich weiß, im Augenblick bringen Stiftungen und Fonds wenig, weil das Modell finanziell wenig attraktiv ist. Aber die Zeichen mehren sich, dass auch die Finanzwelt erheblichen Veränderungen entgegensieht.
7. „Die, an die keiner denkt…“
Um es im ersten Satz deutlich zu machen: Solange die, die aus Gründen des (geringeren oder höheren) Alters, aus Gründen von Erkrankungen oder individuellen Pechs im Leben eh schwach sind, auch noch vom Staat zu wenig geschützt werden, kann von „sozial“ kaum die Rede sein. Das ist ein hoher Anspruch an die Politik, und das Ziel wird kaum je zu 100% zu erreichen sein, aber der Anspruch muss bleiben und stärker in den Fokus rücken! „Corona“ schärft den Blick, wer gemeint sein könnte. Wir brauchen bessere Schutzmaßnahmen und Unterstützung
– für potenzielle und tatsächliche Opfer häuslicher Gewalt,
– für Geflüchtete,
– für Arbeitslose,
– für die, die bisher auf der Straße leben müssen,
– für diejenigen, die wegen „höherer Gewalt“ Insolvenz anmelden mussten,
– …
Das ließe sich noch ellenlang fortsetzen. – Ich könnte mir vorstellen, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen (in ausreichender Höhe) in Corona-Zeiten weitere AnhängerInnen gewinnt. Ich bin mir einigermaßen sicher, dass gut begründete Steuererhöhungen (ich weiß, in der Politik ein Reizwort) dem Staat die Finanzierung der notwendigen staatlichen Programme erleichtern würden und im Augenblick auch an Popularität gewinnen.
P.S.:
– Ich höre manchmal das Gejammer, „danach“ werde eh alles wieder so werden wie vorher. Das sei nach Tschernobyl auch so gewesen. Aber 1. stimmt das nicht, nach Tschernobyl hat sich die Welt ebenso stark verändert wie z.B. nach 9/11 (nur im ersteren Fall positiv, im letzteren Fall negativ), und 2. machen die beiden Beispiele, die ich hier genannt habe, deutlich, dass es die Menschen sind, die bestimmen, wie sie leben. Und „die Menschen“, das sind wir.
– Mir kommt es auch so vor, als müsste der Aspekt des bürgerschaftlichen Engagements noch viel weiter gedacht werden. Da erleben wir eine Welle der Solidarität, die wir nutzen sollten. Irgendwann sind alle Atemmasken geschneidert, was können wir dann füreinander tun…?
– Der Aspekt der Transparenz ist ebenfalls etwas kurz gekommen. Wird wichtig, wenn man bürgerschaftliches Interesse am Mitgestalten der Zukunft wecken möchte…
Jens, darf sich als einer den wenigen mit dem Titel „mein Vorsitzender“ schmücken, als ehemaliger Osnabrücker leitete er einige Jahre die Geschicke der Osnabrücker SPD und wir waren gemeinsam im Stadtrat bis er von dannen zu und jetzt aus Wuppertal auf das Menschengeschehen blickt und seine Scharfzüngigkeit behalten hat. Danke Dir!