Da muss ich mal jemand Luft machen: (Netzfund gefunden und geteilt)
Liebe Politiker, heute bin ich mal wütend. Und frustriert. Über die Politiker auf Landes- und Bundesebene:
Nach einer „normalen“ Arbeitswoche mit Patienten in der Praxis habe ich zusätzlich Mittwochnachmittag noch 2 Schichten im Testcenter gemacht und dort knapp 300 Patienten versorgt und komme gerade aus der Notfallpraxis, wo ich bis 21 Uhr Dienst hatte. – Auch dort ist mir in zahlreichen Gesprächen mit Patienten und Mitarbeitern aufgefallen, was momentan gerade in der Coronapolitik schief läuft. Das macht mich sauer!
Warum? – Seit März ist mehr als genug Zeit gewesen, sich auf Weihnachten & Co vorzubereiten. Passiert ist -Entschuldigung!- erbärmlich wenig. Und wenn, werden mit meist ebenso hilflosem wie dilettantischem Aktionismus nicht die Probleme gelöst, sondern zunehmend viele Existenzen und Jobs vernichtet. Ich komme aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus.
Der erste Lockdown war m.E. richtig und notwendig. Wir wussten zu wenig über dieses Virus und die Ansteckungswege und mussten daher auf die Bremse treten. Das war richtig. Aber danach haben sich die Politiker darauf verlassen, dass die Menschen -meistens Frauen- an der Coronafront im Land das schon geduldig richten. In ihrer Verantwortung als Einzelne, als unermüdliche Altenpflegerinnen, pflichtbewusste Intensivkräfte, Ärztinnen mit Helfersyndrom, Mütter, …
Über Maßnahmen, wie man über den Winter kommt, hat man sich in den Ministerien offensichtlich keine konkreten Gedanken gemacht.
Noch Anfang September hieß es von Herrn Spahn, es werde „mit dem Wissen von heute“ keinen Lockdown der Geschäfte geben. – Wer aktuell die Nachrichten verfolgt, reibt sich die Augen…
Meine ebenso ernste, wie besorgte Prognose: Dieser „harte“ erneute Lockdown wird die Zahlen nicht rasch reduzieren. Weil die Ansteckungen nicht da passieren, wo Ihr Politiker nun draufhaut. Dieser neue Lockdown wird im Wesentlichen zwei Dinge zur Folge haben: Erstens werden die Zahlen nach Weihnachten trotzdem explodieren. Und das liegt nicht am Shopping, sondern daran, dass sich die zahlreichen infizierten, aber (noch) beschwerdefreien Menschen in den Familien treffen und das Virus in aller Ruhe weitergeben werden. Der Januar wird schlimm.
Zweitens wird genau diese Erfolglosigkeit der Verschärfungen von den Menschen sehr bewusst wahrgenommen werden. Die Argumentation „ohne die Verschärfungen wäre es noch schlimmer gekommen“, wird wenigen Menschen plausibel erscheinen. Das wird dann dazu führen, dass das Vertrauen in die Politik weiter sinken wird. Das ist tatsächlich schlimm, weil es dann für Themen wie Impfung etc. fehlt und zunehmend viele Menschen alles was „von da oben kommt“ kritisch ablehnen werden. Zusätzlich wird es zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft führen: Die Vernünftigen kriegen die Daumenschrauben immer fester angezogen und die Coronaleugner machen eh immer, was sie wollen. – Das wird die Menschen in einer Zeit, in der Gemeinsamkeit so wichtig wie nie wäre, immer weiter spalten. Auch dies höre ich bei meinen Patienten in der Praxis jeden Tag – aus beiden Richtungen.
Hotspots werden nicht ehrlich angesprochen
Warum auch immer: Hotspots werden -wie viele Probleme in unserem Land- von Politikern ungern angesprochen. Welcher Politiker will schon offen ansprechen, dass prekäre Arbeitsverhältnisse zu Infektionsexplosionen führen. Jetzt denken Viele an Fleischbetriebe. Ich denke da an…
…Altenheime.
Dort hätte man (also: die Politiker) im Sommer schon „die Hausaufgaben erledigen“ müssen.
Wie das hätte gehen sollen? – Gerne ein paar konkrete Beispiele, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Bessere Bezahlung. Auch wenn das banal klingt: Geld ist oft ein einfaches Mittel, um Dinge zu erreichen: Eine bessere Entlohnung würde den Beruf Pflege attraktiver machen. Berufung alleine reicht nicht. Klatschen auch nicht. Insofern ist es den Menschen in der Pflege egal, dass nicht mal mehr geklatscht wird.
Bessere Qualifikation: Auch hier hätte Einiges in den letzten Monaten zumindest versucht werden können. Die Realität, die ich als Hausarzt in den Heimen erlebe: die wenigen qualifizierten Kräfte sind damit beschäftigt, unnütze Datenmengen in die PCs zu tippen, um die gesetzlich geforderten Dokumentationspflichten zu erledigen und die weniger qualifizierten Hilfskräfte „in Schach zu halten“.
Konkreter Vorschlag: Bis zum Ende der Pandemie Aussetzen der (ohnehin meist unsinnigen) Dokumentationspflichten, damit die noch vorhandenen qualifizierten Kräfte für die ohnehin aufwendige Pflege, die zusätzlichen aufwändigen Hygienemaßnahmen und Testungen bereitstehen könnten. Und vielleicht einem Sterbenden die Hand halten können. Stattdessen in den Heimen: (Bürokratie-)Business as usual: Hauptsache die Pflegedoku ist korrekt.
Bessere Testungen: Seit Längerem gibt es ausreichend Schnellteste. Auch das ist eine Frage des Geldes. Warum sitzt nicht vor jedem Heim jemand im Eingangsbereich, der zu Beginn jeder Schicht JEDEN, aber wirklich ausnahmslos JEDEN mit einem Schnelltest vor Betreten der Einrichtung testet? – Das muss man natürlich lernen und auch richtig machen und über sich ergehen lassen (aus eigener Erfahrung: Das ist nicht angenehm!). Das hätte die Infektionskatastrophen in zahlreichen Heimen verhindern können.
Prophylaxe: Es gibt zahlreiche (aktuell über 300) Studien, die belegen, dass beispielsweise Vitamin D hilfreich ist: Es reduziert die Zahl von Influenza- und CoViD-Infektionen, schwächt den Krankheitsverlauf ab und reduziert die Todesfälle. In Großbritannien wird das seit ein paar Tagen an alte Menschen verteilt, die in der Regel sehr schlechte Vitamin D-Werte haben. Das ist eine ungefährliche, preiswerte und effektive Maßnahme.
Ich könnte zu dem Thema Heimen noch Vieles schreiben, aber ich will mich nicht in Details verlieren.
Ich rede da übrigens nicht einfach so daher: Ich habe in meiner kleinen Hausarztpraxis eine zusätzliche Stelle eingerichtet und zahle den Mitarbeiterinnen den Corona-Zuschlag. Schutzausrüstung, Filter, Messgeräte, Schnelltests, etc. habe ich – egal, zu welchem Preis – gekauft. Das alles kostet natürlich, ist aber notwendig.
Das hätte in den Heimen auch gemacht werden MÜSSEN.
…Schulen.
Plötzlich ist alles gefährlich? – Während in meiner Praxis seit Monaten CO2-Ampeln und Hepafilter stehen, wurde für die Schulen das Lüften und bei Kälte Kniebeugen empfohlen. Von allerhöchster Stelle. Ist Euch da oben echt nicht mehr eingefallen?
Wenn ich morgens zu Fuß zur Praxis gehe und dabei die überfüllten Busse sehe, schüttele ich seit Monaten den Kopf. Ist der ÖPNV nicht in Eurer Zuständigkeit und dadurch gut zu gestalten? – Wie kann das sein, dass der Besuch von Gastronomie und Einzelhandel verboten sind / werden, aber die Menschen sich weiter in Bussen quetschen? – Das verstehe ich nicht.
Lehrerzimmer: Nach allem, was ich von meinen Patienten höre, sind sie als Lehrer in einem Raum der Schule besonders gefährdet: Dem Lehrerzimmer. Fehlende Abstände („was soll man machen?“), Aufenthalt von Kollegen ohne Maske („keiner sagt was“), gemeinsames Pausen- oder Advents-Essen („ist bei uns so Tradition“), fehlende Lüftung („den Kolleginnen ist zu kalt, deshalb wird nicht richtig gelüftet“) – Diese Dinge höre ich täglich.
Es zeigt wie in vielen Bereichen: Wir haben eigentlich jetzt schon genug Regeln. Sie werden nur häufig nicht befolgt.
…Geschäfte.
Ob das wirklich Hotspots sind? Ich habe keine Hinweise dazu gefunden und übrigens: Wer meint, dass der Aufenthalt in Geschäften gefährlich ist, sollte meines Erachtens nicht vor einem Adventswochenende über Geschäftsschließungen laut nachdenken. Denn dann rennen geradewegs alle noch mal schnell los. Wenn, dann bitte sofort! – Samstagabend beschließen, Montag zu. Fertig. Alles andere gehört wie einige Corona-Beschlüsse in die Kategorie: „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“.
…Familien.
Politik lebt von Kompromissen. So auch die Idee, durch die Infektionen an Weihnachten noch mal eine weitere Infektionswelle durch das Land rasen zu lassen. Und danach das Land dann mit einem kollektiven „harten“ Lockdown zu belegen.
Der wird nicht helfen und ich frage mich: wie steigert man das gegebenenfalls noch mal maßnahmentechnisch und rhetorisch – etwa „wollt ihr den „totalen“ Lockdown?“
Auch da habe ich einen konkreten pragmatischen Lösungsvorschlag: groß angelegt mit Antigenschnelltests testen. Damit über 90 Prozent der Infizierten innerhalb von Minuten rausfischen und ihnen Quarantäne erklären und die anderen ohne Sorge feiern lassen.
Das biete ich meinen Patienten in der Praxis an. Hätte man auch bundesweit machen können. Boris Palmer hat gezeigt, dass das in einer ganzen Stadt geht. Warum nicht zumindest in allen Regionen mit hohen Infektionszahlen – wenn nicht gar bundesweit?
Weihnachten hätte so zu einem Abflachen der Kurve führen können (Aktion „mit Sicherheit (k)ein normales Weihnachten“). Stattdessen werden in den Familien zahlreiche asymptomatische Infizierte das Virus weitergeben und danach gibt’s Lockdown für alle.
…Gesundheitsämter.
Da habe ich ein paar Jahre gearbeitet. Die Kollegen dort leisten ebenfalls seit 9 Monaten extrem viel. Am individuellen Einsatz fehlt es sicher nicht. Allerdings sind die Gesundheitsämter auch Teil des Problems. Es fehlt an Personal. Man hat lange Zeit schlicht gehofft, dass im Sommer Corona verschwindet. Es fehlt an Infrastruktur, übergreifenden EDV-Lösungen, geschultem Personal, Kommunikationslösungen …
Einheitliche Erklärvideos wären zum Beispiel längst überfällig. In verschiedenen Sprachen wäre das offen gesagt wichtig. Zum Beispiel „was bedeutet Quarantäne für mich“. Stattdessen wird versucht, das Ganze per Telefon zu organisieren. Funktioniert oft schlicht nicht. Täglich berichten mir Patienten von „verunglückten“ Gesprächen. Zuletzt beispielsweise gestern: Eine positiv getestete Erzieherin ist in Quarantäne gesetzt worden und ruft in unserer Praxis an und fragt, ob es schlau war, ihr Kind in die Schule zu schicken. Hätte niemand mit ihr am Telefon besprochen. So verlieren wir täglich an Boden gegen die Infektionswelle… Da will ich niemandem individuell was vorwerfen. Die Menschen dort arbeiten in Schichten und geben ihr Bestes. Aber wir sollten mal überlegen, ob man Infos nicht zum Beispiel multimedial besser rüberbringt.
…Corona-App
Bevor ich mich über die App und alles, was da im Argen ist, auch noch aufrege, mache ich lieber Schluss.
Was ich abschließend aber gerne von den VERANTWORTLICHEN Politikern mal hören würde: Warum fragt ihr seit Monaten nicht mal an der Basis:
Wie können wir Krankenhäuser, Altenheime, Schulen, Arztpraxen, Geschäfte und Lokale sicher offenhalten?
Was habt Ihr an der Basis an Erfahrungen gesammelt?
Wie kommen wir über den Winter?
Was ist zu tun?
Wo mangelt es?
Wie können wir Euch helfen?
Wir brauchen eine -wie man neudeutsch so schön sagt- best-practice-coronawikipedia.
Ehrlich: DAS wäre klug (gewesen). Die Antworten sind manchmal leichter an der Basis zu finden als in den Elfenbeintürmen der Leopoldina oder des Kanzleramtes.
Sorry. Musste mal raus.
An alle (Politiker und Nicht-Politiker): Bleibt gesund und passt auf Euch auf.
Mein Wunsch an alle zu Weihnachten: Tut der Altenpflegerin, Krankenschwester, medizinischen Fachangestellten, … von nebenan mal etwas Gutes.
Sie wird sich nie beklagen, dafür ist sie viel zu pflichtbewusst und erschöpft.
Sie wird nie nach Hilfe fragen, sie ist gewohnt anderen zu helfen und irgendwie klar zu kommen. Sie wird nie schimpfen, dass Sie nicht Zeit hat, einzukaufen, weil sie gerade ohne Ende Überstunden machen muss, weil es brennt.
Seid also dieses Jahr mal Nikolaus, Christkind, Weihnachtsmann, Elf oder was auch immer. Traut Euch! Fragt konkret, nicht ob, sondern wo und wie Ihr helfen könnt und tut es. Ihr werdet sehen: Helfen macht Freu(n)de.